Prokrastination

Wenn Aufgaben zu einem Problem werden

Die Tendenz, Dinge auf den letzten Drücker zu erledigen, ist wohl jedem bekannt. Wenn dieses Aufschieben jedoch chronisch wird, spricht man von Prokrastination, einem Phänomen mit erheblichen Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Was sind die Ursachen und welche Gegenmassnahmen gibt es dabei?

Die Tendenz, Dinge auf den letzten Drücker zu erledigen, ist wohl jedem bekannt. Wenn dieses Aufschieben jedoch chronisch wird, spricht man von Prokrastination, einem Phänomen mit erheblichen Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Was sind die Ursachen und welche Gegenmassnahmen gibt es dabei?

Der Begriff Prokrastination stammt aus dem Lateinischen, und zwar von dem Substantiv „procrastinatio”, das sich aus den Elementen „pro” und „crastinum” zusammensetzt. Übersetzen lässt sich diese Bedeutung mit „Aufschub auf morgen”. 

Es geht um das regelmässige Aufschieben geplanter Aufgaben, die für persönliche Ziele wichtig sind und normalerweise in einem absehbaren Zeitraum erledigt werden sollten. Dieses Verhalten wird in den gängigen psychotherapeutischen Klassifikationssystemen wie z.B. dem ICD nicht als eigenständige Krankheit klassifiziert, kann aber Teil einer psychischen Störung wie z.B. einer Depression, einer Angststörung oder einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung sein.

Prokrastinierende Menschen neigen dazu, die Zeit, die sie eigentlich für die zu erledigende Aufgabe aufwenden sollten, mit anderen Aktivitäten zu überbrücken. Diese „Ersatztätigkeiten” sind vielseitig und nicht unbedingt angenehm, aber verglichen mit der aufzuschiebenden Arbeit scheinen sie weniger unangenehm zu sein. Eine solche Ersatztätigkeit kann z.B. das Putzen der Wohnung sein. Der chronische Aufschieber findet immer wieder Gründe, warum er die eigentliche Aufgabe gerade jetzt nicht in Angriff nehmen kann. Dennoch kann das Aufschieben die Betroffenen psychisch stark belasten, sodass sie sich ständig unter Druck fühlen und ihre Freizeit nicht mehr geniessen können.

Ein deutliches Unterscheidungsmerkmal zwischen normalem Aufschieben und Prokrastination besteht darin, dass beim Aufschieben zwar Zeitdruck entstehen kann, die Aufgabe aber in der Regel rechtzeitig erledigt wird. Im Gegensatz dazu wird bei starkem Prokrastinieren die Aufgabe oft nur mangelhaft, in letzter Minute oder sogar verspätet erledigt.

Charakteristisch für Prokrastination ist die anhaltende gedankliche Beschäftigung mit der aufgeschobenen Aufgabe. Im Gegensatz zur Faulheit hat Prokrastination nichts mit Bequemlichkeit zu tun. Der Betroffene fühlt sich unwohl und kann seine Gedanken auch durch Ablenkungsversuche nicht von der Aufgabe lösen. 

Gelegentlich wird im Zusammenhang mit Prokrastination auch der Begriff „Task Paralysis” verwendet, der eine Blockadesituation beschreibt, in der man passiv und wie gelähmt vor einer Aufgabe sitzt, ohne sie beginnen zu können.

Ein unstrukturierter Tagesablauf zählt laut Manfred Beutel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Mainz, zu den Hauptursachen für Prokrastination. Ausserdem beeinflussen unser Belohnungssystem und die modernen Lebensbedingungen, wie wir Aufgaben priorisieren. Was nicht gefällt, wird eher vernachlässigt. 

[quote]Prokrastination, auch als Aufschiebeverhalten bekannt, ist die Neigung, wichtige Aufgaben hinauszuzögern, trotz des Wissens um mögliche negative Konsequenzen[/quote]

Ständige Ablenkung durch digitale Nachrichten und die Notwendigkeit, sich selbst zu organisieren, tragen zum Aufschieben bei. Wer an einer Montagelinie arbeitet, kann sich kaum leisten, eine Aufgabe aufzuschieben. Ganz anders sieht es bei den meisten Tätigkeiten heute aus, wenn man sich selbst um die Planung kümmern muss. Wer Schwierigkeiten hat, sich zu organisieren oder unangenehme Aufgaben anzugehen, neigt zum Aufschieben. 

Ersatzhandlungen wie Einkaufen und Putzen haben oft unmittelbare positive Folgen: So ist z.B. das Putzen der Wohnung schnell erledigt und man ist mit dem Ergebnis zufrieden. Im Gegensatz dazu treten die negativen Folgen des Prokrastinierens erst auf lange Sicht auf.

Häufig ist mangelndes Selbstvertrauen die Ursache für chronisches Aufschieben. Sinkt das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit, steigt die Angst vor Misserfolg. Menschen, die ihren Selbstwert von Erfolgen und Misserfolgen abhängig machen, neigen zum Aufschieben. Dies wird verstärkt, wenn die Erwartungen an die eigene Leistung zu hoch sind.

Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und psychische Störungen wie Perfektionismus, Depression, Angst, ADHS, Probleme mit der Selbstkontrolle und fehlende Frustrationstoleranz können die Neigung zum Aufschieben verstärken.

Prokrastinierende verspüren einen starken Leidensdruck und fühlen sich als Versager. Dies kann dazu führen, dass sie ihre Ausbildung nicht abschliessen, keine Arbeit finden oder ihren Freundeskreis vernachlässigen. Im Extremfall werden Rechnungen über längere Zeit nicht bezahlt und Arztbesuche trotz Krankheit immer wieder verschoben.

Menschen, die prokrastinieren, erleben mehr Stress, sind anfälliger für Depressionen und Angststörungen und leiden in höherem Masse unter Einsamkeit und Erschöpfung. Eine Studie der Stockholmer Universität Sophiahemmet aus dem Jahr 2023 bestätigt diese Ergebnisse.

Darüber hinaus führt Prokrastination häufig zu einem geringeren Einkommen im Vergleich zu Personen, die nicht prokrastinieren, und kann wirtschaftliche Schwierigkeiten verursachen. Die negative Selbsteinschätzung, die sich aus dem wiederholten Aufschieben von Aufgaben ergibt, kann zu einem Teufelskreis führen und das Risiko erhöhen, an einer Depression zu erkranken.

[poll]

Die gute Nachricht: Prokrastination ist ein erlerntes Verhalten und daher veränderbar. Mit den folgenden Tipps können Sie Ihre Aufgaben wieder erfolgreich erledigen.

  • Verlieren Sie sich nicht in unwichtigen Details, sondern konzentrieren Sie sich auf das Ziel. Fragen Sie sich immer wieder, ob das, was Sie gerade tun, wirklich notwendig ist, und ändern Sie Ihren Kurs, wenn Sie merken, dass Sie sich vom Ziel entfernen.

  • Überlegen Sie bewusst, warum Sie aufschieben. Warum hat sich das Aufschieben zu einer Gewohnheit entwickelt? Was macht bestimmte Aufgaben unangenehm? Verursachen sie Stress? Finden Sie Wege, diese Aufgaben so anzugehen, dass sie nicht mehr Stress auslösen? Brechen Sie mit Gewohnheiten und gehen Sie beim nächsten Mal anders an die Aufgaben heran.

  • Erstellen Sie eine Liste der zu erledigenden Aufgaben und ordnen Sie diese nach ihrer Wichtigkeit: Welche sind besonders wichtig, welche mittelmässig und welche weniger wichtig? Kennzeichnen Sie die verschiedenen Ebenen z.B. mit A, B und C und arbeiten Sie sie in dieser Reihenfolge ab. Streichen Sie erledigte Aufgaben auf Ihrer Liste durch, um das Gefühl zu verstärken, etwas erreicht zu haben.

  • Notieren Sie für eine anstehende Aufgabe kurz das „Wann“, „Wo“ und „Wie“. Wann möchte ich anfangen? Wo werde ich arbeiten? Wie viel Zeit werde ich aufwenden? Welches Ziel verfolge ich? Welche Schritte sind notwendig, um das Ziel zu erreichen? Welche Informationen benötige ich eventuell für die Aufgabe? Wo bekomme ich diese Informationen?

  • Falls Sie es schwierig einzuschätzen finden, wie viel Zeit Sie für eine Aufgabe benötigen, wählen Sie eine unangenehme Aufgabe, die Sie schon lange vor sich herschieben. Beobachten Sie sich bei der Arbeit. Notieren Sie, wie lange Sie für die Aufgabe brauchen, wie oft Sie abschweifen oder abgelenkt werden. Diese konkreten Erkenntnisse über Ihr Arbeitsverhalten können Ihnen helfen, Ihre Arbeit effektiver zu gestalten.

  • Wenn Sie unterbrochen werden, brauchen Sie in der Regel bis zu 30 Minuten, um wieder konzentriert arbeiten zu können. Viele Ablenkungen können bereits im Vorfeld vermieden werden. Für die meisten Menschen ist das Smartphone die stärkste Ablenkung. Wenn das auch auf Sie zutrifft, legen Sie Ihr Handy in einen anderen Raum, egal ob im Büro oder zu Hause. Erlauben Sie sich, es nur in den Pausen zu benutzen.

  • Wenn Sie vor einer anspruchsvollen Aufgabe stehen, die viel Arbeit erfordert, sollten Sie grosse Projekte immer in kleinere Schritte unterteilen, damit sie weniger einschüchternd wirken. Wenn der erste Schritt getan ist, ist die grösste Hürde bereits genommen.

  • Es liegt in der Natur des Menschen, sich selbst zu überschätzen. Planen Sie grosszügig und gehen Sie davon aus, dass Sie für die Erledigung der Aufgaben etwa doppelt so viel Zeit benötigen werden, wie Sie ursprünglich geplant hatten. Wenn Sie Ihre Ziele für heute schon aufgeschrieben haben, streichen Sie die Hälfte davon, bevor Sie anfangen. So haben Sie eher Erfolgserlebnisse als Frustrationen.

  • Legen Sie vor Arbeitsbeginn eine realistische Zeitspanne fest, die Sie nicht überschreiten sollten. Es mag seltsam klingen. Aber durch die Begrenzung der Arbeitszeit erhöhen Sie deren Wert: Knapp bemessene Zeit fördert die Effektivität. Nur falls Sie die Stunden anschliessend mit effektiver Arbeit gefüllt haben, sollten Sie den Zeitrahmen erweitern.

  • Legen Sie eine feste Zeit fest, zu der Sie mit einer Aufgabe Ihrer To-Do-Liste beginnen. Stellen Sie sich 15 Minuten vor der geplanten Arbeitszeit einen Wecker. Nutzen Sie diese Zeit für ein Vorbereitungsritual: Arbeitsplatz aufräumen, kurz lüften und so weiter. Wenn Sie dieses Ritual regelmässig durchführen, wird Ihnen der Arbeitsbeginn in Zukunft leichter fallen.

  • Wenn die geplante Startzeit erreicht ist, fangen Sie sofort an. Mit jeder Minute, die verstreicht, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Sie das Projekt beginnen. Nach der 72-Stunden-Regel verringert sich die Chance, ein Projekt in Angriff zu nehmen, wenn nicht innerhalb von drei Tagen begonnen wird, sogar auf ein Prozent.

  • Leistungsphasen variieren individuell. Wenn Sie frühmorgens am besten konzentriert sind, erledigen Sie schwierige Aufgaben zu dieser Zeit. Sind Sie eher abends und nachts leistungsfähig, respektieren Sie diesen Rhythmus und nutzen Sie diese Zeit für konzentrierte Arbeit.

  • Regelmässige Pausen sind wichtig, um die Produktivität zu steigern. Neben einer längeren Mittagspause können kurze freie Blöcke für einen Spaziergang oder eine Kaffeepause genutzt werden, um den Kopf freizubekommen und neue Inspiration zu finden. Gönnen Sie sich abends eine feste Ruhezeit, auf die Sie sich freuen können. Setzen Sie klare Grenzen für die Arbeit nach einer bestimmten Uhrzeit.

  • Besonders nach längerem Aufschieben fällt es schwer, die Motivation für konzentriertes Arbeiten aufzubringen. Überlegen Sie sich deshalb vor Beginn der Arbeit eine kleine Belohnung, die Sie nach Erledigung der Aufgabe auch wirklich geniessen. Das kann zum Beispiel der Kauf eines lang ersehnten Buches oder ein entspannendes Bad sein.

  • Unsere tägliche Motivation und Energie im Alltag können stärker von unserer Nährstoffzufuhr beeinflusst werden, als wir vielleicht vermuten. Bestimmte Vitamine spielen dabei eine entscheidende Rolle – ein Mangel kann dazu führen, dass wir uns erschöpft, müde und antriebslos fühlen. Besonders empfehlenswert sind in diesem Zusammenhang Vitamin B12, Omega-3-Fettsäuren, B-Vitamine, Vitamin C, Proteine und Aminosäuren.

  • Wenn Sie trotz der Tipps, die Sie ausprobiert haben, immer noch Probleme mit dem Aufschieben haben, kann dies mit einer Depression, einer Angststörung, einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder einer Psychose zusammenhängen. In solchen Fällen ist es ratsam, eine Psychotherapie in Betracht zu ziehen, vorzugsweise in Form einer kognitiven Verhaltenstherapie.

Die Spannung zwischen dem Wunsch, unangenehme Aufgaben zu vermeiden, und dem Druck, sie zu erledigen, beeinflusst den Alltag vieler Menschen.  Wer sich aktiv mit Prokrastination auseinandersetzt, kann nicht nur seine Effizienz steigern, sondern auch sein Wohlbefinden nachhaltig verbessern. 

Welche Methode bevorzugen Sie, um Prokrastination zu überwinden?

Zeitmanagement-Techniken
Belohnung für abgeschlossene Aufgaben
Ablenkungen minimieren
mehrere
andere
ich leide nicht unter Prokrastination
111 stimmen
Die Umfrage ist vollkommen anonym. Es werden keine persönlichen Daten gespeichert. Es ist nur eine Abstimmung pro Person möglich und erlaubt.

Fakten zum Thema

  • Laut einer Studierendenbefragung der Universität Münster geben nur zwei Prozent der Leute an, nie etwas aufzuschieben.
  • Die Studie der Universität Mainz zeigt, dass in der Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen Männer häufiger prokrastinieren als Frauen. In allen anderen Altersgruppen zeigen Männer und Frauen ein ähnliches Aufschiebeverhalten. Zudem neigen laut der Studie Arbeitslose und Singles besonders häufig zum Aufschieben.
  • Laut einer im September 2022 veröffentlichten Umfrage werden Hausarbeiten wie Aufräumen, Wischen oder Fensterputzen neben der Steuererklärung und der Vereinbarung von Arztterminen am häufigsten aufgeschoben. Wer dazu neigt, Aufgaben aufzuschieben, verliert schnell auch bei der Internetnutzung die Kontrolle.
  • Das Gegenstück zur Prokrastination ist die Präkrastination, bei der die Menschen bestrebt sind, ihre Aufgaben sofort und so schnell wie möglich zu erledigen. Dies geht oft mit einem übermässigen Drang einher und kann zu Stress, oberflächlicher Bearbeitung von Aufgaben bis hin zum Burnout führen. Nicht selten werden soziale Kontakte und Freizeitaktivitäten vernachlässigt.